Samstag, 3. November 2007

Schöne Wissenschaften

Lévi-Strauss, Feyerabend, Schrödinger, Heisenberg und das Ende der Beschränktheit

Der Vorteil der Klugheit besteht darin,
dass man sich dumm stellen kann.
Das Gegenteil ist schon schwieriger.
Kurt Tucholsky

1. Das Wuchern der Begriffe entspricht, ganz wie in den Berufssprachen, einer intensiveren Aufmerksamkeit für die Eigenheiten des Wirklichen, einem wacheren Interesse für die Unterscheidungen, die man einführen kann. Dieser Drang nach objektiver Kenntnis ist einer der am meisten vernachlässigten Aspekte des Denkens derer, die wir "Primitive" nennen. Wenn er sich auch selten auf Wirklichkeiten jener Bereiche richtet, mit denen sich die moderne Wissenschaft befasst, schließt er dennoch vergleichbare intellektuelle Verfahren und Methoden der Beobachtung ein. In beiden Fällen ist das Universum mindestens ebenso sehr Gegenstand des Denkens wie Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen.

2. Man braucht eine Traumwelt, um die Eigenschaften der wirklichen Welt zu erkennen, in der wir zu leben glauben (und die in Wirklichkeit vielleicht nur eine andere Traumwelt ist). Der erste Schritt in unserer Kritik gewohnter Begriffe und Verfahren, der erste Schritt in unserer Kritik von "Tatsachen" muss also ein Versuch sein, den Kreis zu durchbrechen. Wir müssen ein neues Begriffssystem erfinden, das den besten Beobachtungsergebnissen widerspricht, die einleuchtendsten theoretischen Grundsätze außer Kraft setzt und Wahrnehmungen einführt, die nicht in die bestehende Wahrnehmungswelt passen.

3. Auf der einen Seite die Naturforscher, auf der anderen die Metaphysiker - sowohl die öffentlich bestallten wie die forschenden - waren sich doch darüber klar, dass ihr Streben nach tieferer Einsicht sich letzten Endes auf denselben Gegenstand bezog: auf den Menschen und seine Welt. (…) Es ist betrüblich zu sehen, wie die Menschheit demselben Ziel auf zwei verschiedenen und schwierig gewundenen Pfaden zustrebt, mit Scheuklappen und zwischen trennenden Wänden, ohne jeden Versuch, durch Vereinigung aller Kräfte, wenn nicht ein volles Verständnis der Natur, eine schlüssige Antwort auf die Frage: was ist der Mensch? zu erreichen, so doch wenigstens das tröstliche Bewusstsein des Strebens nach ein und demselben Ziel. Das ist ein trauriger Anblick, schon deshalb beklagenswert, weil die Grenzen des Erreichbaren viel enger abgesteckt werden, als wenn alle verfügbaren Geisteskräfte vorurteilslos vereint eingesetzt würden.

4. Wissenschaft wird von Menschen gemacht. Dieser an sich selbstverständliche Sachverhalt gerät leicht in Vergessenheit, und es mag zur Verringerung der oft beklagten Kluft zwischen den beiden Kulturen, der geisteswissenschaftlich-künstlerischen und der technisch-naturwissenschaftlichen, beitragen, wenn man ihn wieder ins Gedächtnis zurückruft.


Mit posthumem Dank an die Autoren Claude Lévi-Strauss (1., zitiert aus "Das wilde Denken"), Paul Feyerabend (2., zitiert aus "Wider den Methodenzwang"), Erwin Schrödinger (3., zitiert aus "Die Natur und die Griechen"), Werner Heisenberg (4., zitiert aus "Der Teil und das Ganze")

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