Der kleine Theo, E. E. Evans-Pritchard und die Witchcraft bei den Zande
Im damaligen anglo-ägyptischen Sudan begann der Anthropologe Edward Evan Evans-Pritchard 1927 im Auftrag der britischen Krone seine Feldforschung bei den Zande. Man wollte herausfinden, wie dieses fremde Volk organisiert war, um als Kolonialmacht vor Überraschungen gefeiht zu sein. Das Ergebnis der insgesamt fast vierjährigen Feldforschung Evans-Pritchards geriet jedoch ganz unabhängig vom ursprünglichen Zweck zu einem Meilenstein ethnologischer Forschung und initiierte in der gegenüber den primitiven Wilden auf der anderen Hälfte des Globus vorurteilsbeladenen europäischen Intelligenzija das Interesse an der Auseinandersetzung mit fremdkulturellen Weltsichten, die bei näherer Prüfung nicht in Opposition zur scheinbar allein in der aufgeklärten europäischen Kultur beheimateten Vernunft standen, sondern sie dort in jeweils spezifischer Weise ergänzten, wo die fortschrittliche Zivilisation ein phantasieloses Loch namens Zufall gegraben hatte.
Eines Nachmittags - Evans-Pritchard war bei den Zande gerade etwas eingemeindet - war ein kleiner Junge verschwunden; nennen wir ihn hier "Theo". Theo sollte irgendeiner Aufgabe nachkommen, die ihn vom Dorf wegführte und als er nach einer angemessenen Zeit nicht wieder aufgetaucht war, machte man sich auf die Suche. Man fand ihn schließlich - lebend, aber schmerzgekrümmt und unfähig weiterzulaufen in der Steppe liegend. An seinem Bein klaffte eine kleine Wunde.
Evans-Pritchard, der im Dorf geblieben war, konnte den Jungen nach dessen Rücktransport besuchen. Ein Medizinmann stand als Wortführer einer kleinen Gruppe an Theos Lager; man debattierte, welches Orakel man anwenden solle, um herauszufinden, wer aus dem Dorf dem kleinen Jungen das angetan hatte. Es gab in der Gruppe keinen Zweifel: Irgendein Dorfmitglied hegte eine böse Absicht gegen Theo und hatte einen Zauber gesandt, der ihn in seine missliche Lage gebracht hatte.
Evans-Pritchard hörte eine zeitlang zu und fragte dann, ob er sich Theos Wunde einmal ansehen dürfe. Es wurde ihm gewährt. Der Brite brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass es sich um einen Schlangenbiss handelte. Er wandte sich an den Medizinmann und bemühte sich, ohne Überheblichkeit und mit größter freundlicher Vorsicht seine Entdeckung zu kommunizieren, dass hier nicht ein übersinnlich-fauler Zauber, sondern eine ganz weltliche Giftschlange ihre Arbeit getan hatte. Man solle sich doch bitte möglichst schnell um die Wunde und das sich im Körper ausbreitende Gift kümmern und nicht kostbare Zeit mit unsinnigen Spekulationen vertun.
Was nun geschah, hat Evans-Pritchards Sicht auf die primitiven Wilden, unter denen er sich zu befinden glaubte, und ihren prärationalen Hokuspokus schlagartig und nachhaltig verändert: Der Medizinmann sah ihn zunächst lange und sicher auch ein wenig mitleidig an. Dann antwortete er. Er nannte dem Ethnologen die Schlangenart, das Alter der Schlange, die den Jungen gebissen hatte, die Wirkungsweise ihres Giftes und die in der Naturmedizin der Zande erfolgreich eingesetzten Gegenmittel (die schon längst ergriffen worden waren). Natürlich, gab der Medizinmann zu verstehen, sei das ein Schlangenbiss; was um alles in der Welt solle es denn wohl sonst sein?
Der verdutzte Evans-Pritchard fragte, wozu denn dann das Orakel dienen solle, warum man über einen bösen Zauber spreche, wenn man doch wisse, dass es eine Schlange gewesen sei, die den Jungen verletzt und wenn man bereits alles getan habe, was medizinisch erforderlich sei. Abermals blickte ihn der Medizinmann lange und sicher auch ein wenig belustigt an. Ein Junge, sagte er schließlich, hat eine Wunde am Bein und kann nicht mehr laufen. Die Ursache dieser Wunde ist eine Schlange, die ihn gebissen hat. Aber warum hat diese Schlange diesen Jungen heute und an jenem Ort gebissen?
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen